## Nachricht vom 06.06.97 weitergeleitet ## Ursprung : /CL/AKTUELLES/ALLGEMEIN ## Ersteller: EMP@NADESHDA.gun.de /emp 06.06.97 Berlin - Vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten begann heute ein ungewoehnlicher Prozess. Die Staatsanwaltschaft behauptet, bereits die Angabe einer Fundstelle, also ein Link auf eine WWW-Seite im Internet, waere eine Straftat, wenn die Fundstelle sich auf die Zeitschrift RADIKAL beziehe. Das koennte im Endeffekt ein Verbot von Suchmaschinen bedeuten. Um so weit zu denken, ist Kenntnis der Materie hilfreich. Hier taten sich Staatsanwalt und Richterin irgendwie schwer. Auch die Anklageschrift ist extrem missverstaendlich bis schlicht falsch. Ein zweiter "Angeklagter" ist Rechtsanwalt Schneider, der sich wegen des "gleichen" Verhaltens, eine "Fundstelle" anzugeben, beim Berliner Gericht selbst anzeigte. Aber leider hat das Berliner Gericht das Verfahren von RA Schneider gen Hennef weitergeleitet und dort scheint der Spruch "Herr, wirf Hirn vom Himmel" irgendwie Folgen gehabt zu haben. Insgesamt ist Geduld erforderlich. Auch Helmut Kohl wusste nicht, was eine Datenautobahn ist und Mitterand fragte Anfang diesen Jahres bei einer Multimedia-Praesentation "was ist das" und zeigte dabei auf die Maus [1]. Beim Amtsgericht Tiergarten ging alles seinen behoerdlichen Gang. Der routiniert festgelegte Saal war viel zu klein. Denn allein mehrere Dutzend Journalisten waren angemeldet. Dazu kamen die "normalen" Zuschauer und eine Schulklasse. Also fand das ganze im Saal 700 statt, wo auch der Mykonos-Prozess lief. Die Eingangskontrolle war so streng wie bei der DDR-Einreise: kein Einlass ohne gueltige Ausweispapiere sowie die Durchleuchtung nach Waffen, Sprengstoff, Funkgeraeten. Die Handies wurden einkassiert. Im Saal nuschelte die Richterin ein paar Saetze aus der sachlich wirren Anklageschrift. Der Staatsanwalt fluesterte mit leiser Stimme auch noch etwas. Nur die Angeklagte Angela Marquardt sprach klar und deutliche Worte. Da das Gericht irgendwie nicht durchblickte, wurde vertagt auf den 30.06.97. Dann soll ein faehiger Sachverstaendiger bei der Wahrheits- findung helfen: Andy Mueller-Maguhn vom Chaos Computer Club. Damit ist dieser Bericht noch nicht zu Ende: als Nachspeise kommt ein Vorspiel. Drei Tage vor Prozessbeginn fand bei Angela Marquardt eine Haus- durchsuchung statt. In den fruehen Morgenstunden stuermten die "Spezialisten" bei der Ermittlung ihre Wohnung auf der Suche nach einem Internet-Anschluss, ueber den sie angeblich die Anklageschrift ins Internet eingespielt haette. Dabei verboten die Durchsuchenden Angela Marquardt, sich die Namen der Beamtinnen und Beamten zu notieren. Deshalb fehlt hier der Name einer Beamtin; es wird sich aber bemueht, ihn nachzuliefern; wegen ihrer Verdienste. Als Frau Marquardt ihren Anwalt anrufen wollte, schnappte sich eine anwesende Beamtin das Telefon und fragte "Welche Nummer?" Frau Marquardt nannte sie und die Beamtin waehlte. So frueh am Morgen war aber da noch keiner und die Beamtin hielt Angela den Hoerer ans Ohr. "Hoeren Sie - es hebt niemand ab. Sie haben das Recht auf einen Anruf. Und das war Ihr Anruf, kein weiterer Anruf erlaubt." In der Juristerei ist alles Auslegungssache. Die Variante, ein "Recht auf einen virtuellen Anruf" zu gewaehren, ist auch fuer Filmliebhaber von BRAZIL eine echte Innovation in der Informationsgesellschaft. Vielleicht wird das ein stilpraegendes Element bei der Berliner Justiz in politischen Verfahren. Und Herr Kanther koennte versucht sein, die schoepferische Exegese dieser "vorbildlichen" Beamtin N.N. [4] zu loben. Waehrend Frau Marquardt noch staunte ueber ihr erstes "virtuelles Telefonat" im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (so frueh am Morgen verlangsamte ihr Bootprozess einige Reaktionen), suchte die Meute nach dem "Internet-Anschluss" in der Wohnung. Sie ward schnell fuendig: ein alter, betagter 386er PC und ein noch aelteres 2400 bps Modem. Aus Angst vor einem sich selbst zerstoerenden Computer (bei solchen Leuten muss man ja mit allem rechnen) hatten die Beamten eine eigene Bootdiskette mitgebracht. Sie hatten Glueck, dass Angela Marquardt kein Linux benutzt und nach geraumer Zeit war der Computer auch hochgefahren. Waehrenddessen wurde das 2400er Antik-Modem fachlich begutachtet. Angela versuchte der Meute zu erklaeren, dass sie dieses Modem nicht mehr benutzt und in ihrer Wohnung keinen Internet-Zugang hat. "Da ist aber Mail auf der Platte" war das Gegenargument. Geduldig versuchte Angela zu erklaeren, dass sie ihre Mail von einem Mitarbeiter entweder auf Papier ausgedruckt mitnimmt oder per Diskette nach Hause transportiert (Kaenguruh-Netzwerk). Nach mehreren Erklaerungsansaetzen erschien ihnen das plausibel. Aber wenigstens wollte die Meute das 2400 bps Modem beschlagnahmen; wohl um diese "Tatwaffel" oeffentlich praesentieren zu koennen. Angela hat es ihnen ausgeredet. Das war ein Fehler. Denn wenn die Meute dieses olle Ding beschlagnahmt haette, dann haette Angela einen Anwalt beauftragen koennen, ausschliesslich ihre Interessen bezueglich der Beschlagnahmung wahrzunehmen. Und diese Kosten waeren ihr voraussichtlich erstattet worden [2]. In der Presse [3] wurde die Kompetenz der Durchsuchungsbeamten wie folgt geschildert: "...Justizsprecher Ruediger Reiff berichtet, in der Wohnung sei kein Internet-Anschluss gefunden worden". (c) Wau Holland fuer eMailPress, die agentur gegen den strich... ---------------------------------------------------------------- Quellen: [1] Nettime, aktuelle Ausgabe, S. 46, chris@creanet.net "How France is jumping in the techno-liberal-bandwagon"; Website with full version httP://www.ljudmila.org/nettime/zkp4 [2] cl.magazine.radikal, *JBw: Strafverfolgungsentschaedigungsfragen* Msg ID <6WuRDpllGWB@emp.nadeshda.gun.de> [3] Sueddeutsche Zeitung 125/97, S. 6, AP-Meldung, ca 30 Zeilen [4] Der Name der kreativen Beamtin erfolgt ggf. in Korrekturmeldung -- 19. Juli 1940. Erlass Reichspostministerium. [Min. Z. (Lb) 1035-0] *Ausschluss der Juden als Fernsprechteilnehmer* Juden sind als Fernsprechteilnehmer ausgeschlossen. Ausnahmen fuer Konsulenten, Krankenbehandler und Personen, die in privilegierten Mischehen leben. (Walk, Sonderrecht f Juden im NS-Staat)