JUSTIZ Fehlstart Von Lorenz Lorenz-Meyer Vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten begann am Freitag, den 6.Juni, der Prozeß gegen die PDS-Politikerin Angela Marquardt wegen des RADIKAL-Links auf ihrer Homepage - und wurde gleich wieder ausgesetzt. Die vorliegenden Beweismittel reichten zur Verhandlung nicht aus. Kaum hatte die "Sache Marquardt" begonnen, da war sie auch schon wieder vorüber, im hohen, würdevollen Gerichtsaal mit der Nummer 700 im Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Erst kürzlich hatte in diesem Raum ein anderes deutsches Gericht für internationalen Aufruhr gesorgt: Hier wurde das Mykonos-Attentat verhandelt. Die schußsicheren Glaskästen um einen Teil der Bänke zeugen noch von dem Mut deutscher Staatsanwälte und Richter, mit unbeugsamer Rechtsauffassung dem internationalen Terrorismus zu trotzen und dabei nicht nur das eigene Leben, sondern auch die Politik des Bundesaußenministers aufs Spiel zu setzen. Ein bißchen vom Pathos jenes Prozesses färbt auch ab auf das Verfahren gegen die Ex-PDS-Vizechefin Angela Marquardt, so als hätte der große Schwung die Berliner Justiz noch ein wenig weiter getragen, über das Ziel hinaus. Und so wie im Mykonos-Prozeß die deutsche Außenpolitik mit auf der Anklagebank zu sitzen schien, gibt es auch im Fall Marquardt einen unsichtbaren zweiten Angeklagten, dessen Mitschuld bei der Verbreitung terroristischen Gedankenguts zur Diskussion steht: das Internet. Aber genau an diesem Punkt geriet die Sache auch schnell ins Schleudern. Denn während im Fall Mykonos der manifeste Schrecken einer Schießerei den Ausgangspunkt des Verfahrens bildete, ging es im Fall Marquardt um Dinge, die sich nicht so leicht (be)greifen lassen: Billigung, Beihilfe zur Verbreitung von, Aufforderung zu..., etc. Und das Ganze auch noch im flüchtigen Medium der Bits und Bytes - da lag Verwirrung nahe. Angela Marquardt wird vorgeworfen, in ihrer Homepage mit Hilfe eines Links, der auf einen inkriminierten Text aus der Autonomenzeitschrift RADIKAL verweist, terroristisches Gedankengut verbreitet zu haben. Als der Staatsanwalt, mehr aus einer seltsamen Mischung aus Arroganz und Schüchternheit als aus Sicherheitsbedürfnis halb hinter einer Panzerglasscheibe versteckt, mit monotoner Stimme die Anklage verlas, waren die flott geschriebenen Zitate aus dem corpus delicti RADIKAL das einzige, was auch in den hinteren Zuschauerreihen gut zu verstehen war. Das machte aber auch nichts, denn den interessierten Beobachtern war die verlesene Anklageschrift sowieso bekannt. Angela Marquardt selbst hatte sie im anderen corpus delicti - ihrer Homepage - veröffentlicht. Diese Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit empörte die Staatsanwaltschaft so sehr, daß sie Marquardt gleich ein weiteres Gerichtsverfahren anhängte - denn das Veröffentlichen von Anklageschriften ist nach deutschem Recht verboten. Dieses Verbot dient eigentlich dem Schutz der Angeklagten - zum Beispiel vor der Presse - und soll vielleicht auch verhindern, daß etwaige Komplizen durch eine solche Veröffentlichung gewarnt werden. Ob es sinnvoll auch in einem Fall zur Anwendung gebracht werden kann, in dem die Angeklagte höchstselbst ihre Anklageschrift veröffentlicht, mag bezweifelt werden. Da Frau Marquardt inzwischen auch das Schreiben, in dem sie über das neuerliche Ermittlungsverfahren informiert wird, auf ihre Homepage gestellt hat, spekulierten die beim Prozeß anwesenden Journalisten - ein wenig voreilig vielleicht - auf eine Fortsetzung und Eskalation der Posse ad infinitum. Im Gerichtssaal 700 jedenfalls blieb die Sache kurz nach Verlesung der Anklageschrift stecken. Angela Marquardt gab noch eine kurze Stellungnahme ab, wie man sie von ihr erwartete: ein bißchen Klärung des Sachverhalts; dann die obligate Distanzierung von den gewaltbereiten RADIKAL-Inhalten; der entrüstete Hinweis darauf, daß kein vergleichbares Verfahren wegen Links auf rechtsradikale Texte im Gange sei (nicht, daß sie RADIKAL und Zündel auf eine Stufe stellen wolle, gottbewahre!); die Bemerkung, daß eine Verurteilung das deutsche Internet international isolieren werde; und schließlich der - leider nicht ganz von der Hand zu weisende - Verdacht, das Verfahren sei letztlich ein politisches, das auf die Diffamierung der PDS abziele. Als sich dann jedoch Richterin Meline Schröer mit ein paar Fragen zur weiteren Klärung der Sachlage an die Angeklagte wandte - wie habe sie es denn damals angestellt, als sie diesen Link eingerichtet habe? - wurde ihr brüsk von Marquardts Rechtsanwalt Volker Ratzmann beschieden: "Frau Marquardt beantwortet keine weiteren Fragen." Da war guter Rat teuer. Die Staatsanwaltschaft, die selbst offenkundig nicht mit der Möglichkeit gerechnet hatte, daß in der Sache weiterer Klärungsbedarf besteht, bot großmütig einen Ortstermin vor dem eigenen, frisch eingerichteten Internetanschluß an. Dort könne man gerne vorführen, wie man so etwas mache, einen Link einzurichten. Die Verteidigung jedoch drängte in einem Beweisantrag auf die Anhörung sachkundigerer Zeugen. Zwei Beamte des Bundeskriminalamtes, die den Fall Marquardt im letzten Jahr mit ihren Surf-Erlebnissen ins Rollen brachten, möchte Rechtsanwalt Ratzmann anhören lassen, und Andy Müller-Maguhn, der omnipräsente Sprecher des Chaos Computer Clubs, soll als Experte vor Gericht darüber Auskunft geben, wie das Internet funktioniert. Von diesen Zeugen erhofft sich die Verteidigung, eine Reihe von Tatsachen unter Beweis zu stellen: daß zum Zeitpunkt der Einrichtung des problematischen Links auf die Internetversion von RADIKAL die inkriminierte Ausgabe 154 noch nicht auf dem Server lag, auf den der Link verwies; daß von Anfang an eine Bemerkung Marquardts, in der sie sich von Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung distanziert, den Link begleitete; daß der Link auch zu späteren Zeitpunkten nie direkt auf die inkriminierten Texte verwies, sondern daß mehrere informierte Entscheidungen des Benutzers nötig waren, um zu diesen Texten zu gelangen; daß die inkriminierten Texte mit deutlich weniger Schritten über die im Internet üblichen Suchmaschinen zu erreichen waren; daß sich die Inhalte auf einem Server, auf den ein Link verweist, ändern können, ohne daß die Person, die den Link eingerichtet hat, davon erfährt. daß ganz allgemein ein Link auf einer Web-Seite nicht als eine "Verbreitung" des Zieltextes angesehen werden kann, da bei Anwahl des Links der Rechner des Benutzers eine eigene, unabhängige Verbindung zu dem Server aufbaut, auf den der Link verweist - von einer Verbreitung über die Ausgangsseite im Sinne einer physischen Weitergabe könne keine Rede sein; Sollte dies nicht genug zur Klärung des Sachverhalts beitragen, um die Anklage - laut Rechtsanwalt Ratzmann "ein Mix von technischen und juristischen Begriffen, die überhaupt nicht zusammenpassen" - zu Fall zu bringen, so wird sich die Verteidigung auf Artikel 5 des Grundgesetzes und § 86 Abs. 3 des Strafgesetzbuches berufen: Angela Marquardt betreibe auf ihrer Homepage keine Verbreitung terroristischen Gedankenguts. Sie dokumentiere und kommentiere vielmehr Vorgänge des Zeitgeschehens und stehe damit unter dem verfassungsrechtlich garantierten Schutz der Meinungsfreiheit. Nachdem die Verteidigung ihren Beweisantrag verlesen hatte, zog sich das Gericht zurück, um anschließend zu verkünden, das Verfahren sei für's erste ausgesetzt und man werde am 30. Juni noch einmal von vorne beginnen. Im ersten Anlauf schien allein die Verteidigung sich hinreichend auf den Fall vorbereitet zu haben, der zu einem Präzedenzfall für die juristische Bewertung des Internet werden könnte. Man kann nur hoffen, daß es in der nächsten Runde ein wenig professioneller zugeht. [Kommentare? Hier geht's zur Diskussion im SPIEGEL-ONLINE-Forum] SPIEGEL ONLINE 23/1997 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags