[taz]
Aus dem Schlaf gerissen
Wohnungsdurchsuchung bei Angela Marquardt wg. "radikal"-Strafverfahren
Berlin (taz) - Verwundert rieb sich Angela Marquardt den Schlaf aus
den Augen. Fünf Beamte der Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft
standen gestern morgen vor ihrer Haustür. Anschließend durchsuchten
sie die Räume der früheren PDS-Vizevorsitzenden und widmeten sich vor
allem ausgiebig ihrem Computer. Doch die Beamten mußten unverrichteter
Dinge wieder abziehen: Den erhofften Internetanschluß fanden sie
nicht.
Die Berliner Justiz begründete die Aktion gestern damit, Marquardt
habe amtliche Schriftstücke zu einem anstehenden Prozeß im Internet
veröffentlicht. Das 25jährige PDS-Mitglied muß sich übermorgen vor dem
Berliner Amtsgericht verantworten. Sie soll, so der Vorwurf der
Staatsanwaltschaft, die Verbreitung von Artikeln der Zeitschrift
radikal im Internet gebilligt haben. Darin hätten die Internet-Nutzer
sich über Anleitungen für Anschläge auf die Bahn kundig machen können.
Zudem wird Marquardt, deren Studium durch die Schauspielerin Inge
Meysel mitfinanziert wird, in der Anklageschrift vorgeworfen, ein
weiteres Gerichtsschreiben ebenfalls im Internet veröffentlicht zu
haben. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft zwei weitere
Ermittlungsverfahren ein. Nach dem Strafgesetzbuch ist es verboten,
eine Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke von
Strafverfahren im Wortlaut öffentlich zu machen, bevor sie in der
Hauptverhandlung erörtert worden sind. Ein Verstoß kann mit einer
Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet
werden.
Marquardt, derzeit Politikstudentin im fünften Semester an der Freien
Universität in Berlin, wird sich voraussichtlich auf einen mehrtägigen
Prozeß einzustellen haben. Er ist der erste in Europa, der sich mit
angeblichen Verbindungen zu linksradikalen Gruppen beschäftigt.
Derzeit erhält die Sozialistin, deren Markenzeichen die bunten Haare
sind, Solidaritätsadressen aus aller Welt - selbst von der deutschen
Computerzeitschrift Trend.
Obwohl der gebürtigen Greifswalderin im Juli vergangenen Jahres im
Verfassungschutzbericht des Bundesinnenministerium bescheinigt worden
war, sich von Anleitungen zum Bombenbasteln distanziert zu haben,
wurden die Berliner Ermittler aktiv.
Marquardt, die demnächst für eine Berliner Computerfirma arbeiten
will, gab sich gestern gelassen. Mit der Stippvisite der
Staatsanwaltschaft habe man sie wohl nur einschüchtern wollen.
sev
TAZ Nr. 5243 vom 04.06.1997 Seite 4 Inland 76 Zeilen
TAZ-Bericht sev
_________________________________________________________________
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
Hilfe Volltextsuche ABO LeserInnenbrief
Homepage Tages-Verzeichnis
Inserate/Werbung Impressum
Ressortverzeichnis Gesamtverzeichnis
Nächster Artikel