Was ihr jetzt in den Händen haltet, ist die erste Ausgabe eines neuen radikal-Zusammenhangs. Wir haben in einer längeren Phase der Organisierung das ziemlich gebeutelte Projekt von den verbliebenen Alten übernommen. Die Alten verabschiedeten sich in einer Aufarbeitung, die im April 98 unter dem Titel: "Ein Zusammenhang der radikal - Zum 13.6.1995, dem Davor und Danach" veröffentlicht wurde. Wenn ihr die Broschüre noch nicht kennt, fragt in eurem lokalen Infoladen nach.

Da ihr sicherlich wissen wallt, wer WIR sind und was uns dazu bewegt hat, die Fußstapfen dieses traditionsschweren Projekts weiterzuführen, beginnen wir unser Vorwort mit dem Vorstellungsschreiben einer Gruppe, die sich unserem Zusammenhang angeschlossen hat. Wie ihr euch alle sicherlich schon gedacht habt, ist DAS unsere wirkliche Motivation:

Hallo und einen guten Tag!

"Wir sind noch relativ jung, aber nicht so richtig, denn wir haben eine Menge Erfahrung.

Wir sind Danger-Seekers. Gefahrensucher. Echte Adrenalin-Junkies. Wir sind ständig auf der Suche nach dem ultimativen Kick, dem absoluten Nervenkitzel.

Kennengelernt haben wir uns am Hauptbahnhof. Wir waren unterwegs ins Dynamo-Stadion, die Mädels als Cheerleaders und die Jungs natürlich als Hools. Den Mädels fiel auf, daß ihre Püschel denselben rosaroten Farbton hatten wie der Iro von Ratte, unserm Punky. Tja, und so lernten wir uns kennen und lieben. Seither sind wir ein unschlagbares Team. Ständig suchen wir das neuste Abenteuer. Wir haben schon so ziemlich alles ausprobiert: Bungee-Jumping, Airbagging, Subway-Surfing, Skinhead-Bashing, Drive-by-Shooting, Herzklappen-Piercing...

Und irgendwann nach dem 13.6.95 wurde unser derzeitiger Top-favorite-Adrenaline-Kick radikal. Das bringt volle Kanne fun, sowas hatten wir noch nie/ Zum Beispiel mußten wir uns schon oft mit Detektiven, Wachschützern oder Bullen rumschlagen, aber bei der radikal hat das alles andere Dimensionen. Mein lieber Scholli, das bringt unsere Herzen erst so richtig in Wallung..."

Nach einer langen Phase der Reorganisierung kehrt das Projekt radikal zurück in die ungeschriebene Zukunft undogmatischer linksradikaler Bewegungen.

Wir, Frauen und Männer aus unterschiedlichen politischen und sozialen Zusammenhängen haben uns entschlossen einen neuen Anlauf mit zu wagen. Es ist ein Probelauf in dem wir als Neulinge, tragfähige soziale und politische Strukturen entwickeln müssen, die das Erscheinen der radikal längerfristig ermöglichen. Solch ein Prozeß sollte nie beendet sein, doch gerade unsere ersten Schritte waren etwas wacklig.

Dem radikal - Projekt, nach der jüngsten Repressionsgeschichte deutlich angeschlagen, wieder auf die Beine zu helfen, bedurfte und bedarf einer größeren Anstrengung. Wie in der Aufarbeitung eines Teils der alten Struktur beschrieben, wurde es den Damen und Herren des Morgengrauens nicht allzu schwer gemacht, ihre kriminalistischen Fingerchen in den bunten Suppentopf des Zeitungsprojekts zu stecken. Auch wenn wir mit der radikal neu beginnen, kommen wir nicht an den Fehlern der Vergangenheit vorbei. Wollen wir nicht nach dem Motto "neue Leute, neues Glück" verfahren, müssen wir uns die Ursachen und Wirkungen der individuellen, wie strukturellen Fehler des alten radikal Zusammenhangs vergegenwärtigen und an ihnen arbeiten.

So wichtig die strukturelle Basis auch ist, sie ist nicht zu trennen von der politischen Sinnfrage eines solchen Projektes. Wir sind nicht die Ersten und werden wohl nicht die Letzten sein, die sich fragen müssen, für was sie den Berg an Arbeit, mit dem zusätzlichen Aufwand einer klandestinen Organisierung, auf sich nehmen wollen. Es geht dabei nicht um die politische Arbeit an sich, sondern um den Gebrauchswert den ein Projekt wie die radikal für eine linksradikale/außerparlamentarische Basispolitik haben kann.

Wenn es kein (an-)greifbares Produkt gibt, kein Ergebnis, spielt es letztlich keine Rolle, oh das Projekt existiert oder nicht. Natürlich können ein paar Leutchen zusammenkommen und sich die Köpfe heißreden, sie sich sogar einschlagen, wenn es ihnen Spaß bereitet. Sie können es aber auch sein lassen. Es ist egal. Das, was sie treiben, ist nicht wesentlicher oder weitreichender als ihr Schweißgeruch. "

Wir wollen jetzt nicht mit der alten Leier von "wir haben mehr Fragen als Antworten" loslegen. Solange wir uns bewahren das Unerträgliche unerträglich zu finden, gibt es genug Gründe nicht nur zu fragen, sondern zu handeln! Ohne Zweifel an der eigenen politischen Praxis und der Motivation, die dahinter steckt, bleiben wir aber kleben bei dem mal mehr mal weniger befriedigenden Selbstbild, zumindestetwas getan zu haben. Für eine tatsächlich spürbare Herrschaftsopposition, brauchen wir Überlegungen, die über eine zeitweise politische Lebensäußerung hinaus gehen.

Die radikal war in ihrer wechselvollen Geschichte, meist ein Bewegungsblatt. Politsche Ereignisse/Diskussionen wurden dokumentiert und kommentiert. Ab und zu konnten eigene redaktionelle Beiträge Auseinandersetzungen puschen oder entfachen.

Heute stehen wir vor der Situation ein Bewegungsblatt ohne Bewegung zu sein. Nach wie vor gibt es aktive linksradikale Gruppen. Vielleicht kann mensch bei der Antifa oder den Auseinandersetzungen um Gorleben ansatzweise von Bewegungen sprechen, aber von einer linksradikalen/ autonomen Bewegung mit einer Vielfalt an Debatten und einer nicht nur punktuellen Mobilisierungsfähigkeit merken wir herzlich wenig. Kein Grund zum jammern, aber ein Grund sich über die heutige Selbstverortung der radikal Gedanken zu machen.

Wir finden es wichtig, jenseits der Bewegungskonjunkturen, sozial und politisch handlungsfähige Strukturen zu erhalten. Nur so können wir an Erfahrungen wachsen und stabilere politische Perspektiven entwickeln. Solch eine Vorstellung von Kontinuität bleibt jedoch nur lebendig, wenn wir die Offenheit haben, sie immer wieder neu zu überdenken. Wir sehen uns nicht als einen Haufen aufrechter RevolutionärInnen, der, in Zeiten relativer Flauten, wie blöd in die Segel bläst und die Fahne klandestiner Projekte hochhält auch wenn niemand mehr hinguckt. Sollten wir feststellen, daß die radikal nicht mehr ist und sein kann, als ein Denkmal, bewegungsunfähig und verstaubt, stellen wir das Projekt ein und sehen uns nach sinnvolleren politische Betätigungsfeldern um.

Doch soweit sind wir nicht! face and dots

Wenn es richtig ist daß, das Politische immer wieder neu formuliert, debattiert und erstritten werden muß, brauchen wir dafür verschiedene Foren.

Die radikal ist ein Forum. Sie ist kein Ersatz für Versammlungen, Plenas und offen erscheinende Medien - doch sie bietet die Möglichkeit das Politische jenseits staatlicher Legalitätsgrenzen zu formulieren, zu debattieren und militant zu erstreiten.

Revolutionäre Politik muß sich die Fähigkeit bewahren, staatlich und gesellschaftlich vorgegebene und oftmals repressiv abgesicherte (Grenzen zu überschreiten. Daß ein Großteil, der in der radikal veröffentlichten Texte durchaus in den, mehr oder weniger offen erscheinenden Medien, abgedruckt werden könnte, hebt die Handlungs- und Diskussionsspielräume, die unser Projekt strukturell wie inhaltlich bietet, argumentativ nicht auf. Von militanten Initiativen bis zu gesellschaftlichen Analysen, ist der subversive Charakter der radikal, ebenso Ausdruck einer politischen Haltung, wie auch der praktische Versuch staatliche Kontrollmechanismen zu sabotieren.

Daran anknüpfend erhoffen wir uns weiterhin, daß die unterschiedlichen militanten Projekte und Gruppen, ob mit oder ohne Namen, die radikal für ihre Beiträge nutzen.

Wir müssen uns nicht in pessimistischen Zukunftsvisionen suhlen, um nüchtern festzustellen, daß die Entwicklung dahingeht, immer ungenierter staatliche Allmachts- und Saubermannphantasien, in die Realität umzusetzen. Ungestört vom "humanistischen Gerede" einer schrumpfenden linksliberalen Öffentlichkeit, wird MigrantInnen das Existenzrecht entzogen, werden Innenstädte zu 'no go areas' für alle, die nicht der patriarchalen, kapitalistischen Verwertungslogig entsprechen. Bullen und Behörden wollen mit ihrem Lauschangriff im großen Rahmen, Alltags- und Arbeitsbereiche vieler Menschen kontrollieren. Auch die ' Bewegungsräume einer militanten Linken, werden damit enger.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Wäre es so einfach die Defensive linker/ linksradikaler Politik hauptsächlich über repressive Maßnahmen seitens staatlicher Organe zu erklären, müssten wir uns tatsächliche nur besser organisieren. Nein! Wir brauchen öffentliche, offen lebbare Initiativen und Strukturen, damit wir mehr als nur einen Teil des Himmels aus unserem szenalen Gully wahrnehmen können. Dennoch finden wir es notwendig, auch angesichts des schärferen Windes, der uns um die Nase weht, verdeckte Strukturen weiter zu entwickeln und an ihnen, wie an den öffentlichen Initiativen, Perspektiven linker revolutionärer Politik diskutierbar zu machen.

Die radikal ist in erster Linie Diskussions- und Mitteilungsblatt der linksradikalen Szene, sie entfaltet kaum eine Wirkung darüber hinaus. Wir finden nicht, daß diese Beschränkung unseres Projekts an sich ein beklagenswerter Zustand ist. Die Selbstbeschränkung der Linksradikalen insgesamt jedoch, die außer auf dem Papier, selten zu neuen Ufern schippert, nehmen wir als Rückzug aus weiten Teilen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und als Aufgabe des öffentlichen Raumes war.

Für die Rückeroberung (nicht im militärischen Sinne) des Alltags, der Straße, des Sozialen, durch eine emanzipative linksradikale Politik, müssen auch wir als Zeitungsprojekt bereit sein, über die Beschreibung und Dokumentation der festgetretenen Pfade im linksradikalen Schrebergarten hinaus, neue Wege zu gehen.

Das betrifft so wohl das inhaltliche Profil der radikal, als auch ihre konkrete Verbreitung.

Angefangen bei Beiträgen, die Sich positionieren anstatt bei Beschreibungen stehen zu bleiben, die nicht nur Informationen sondern Zusammenhänge transportieren, bis hin zu einer Verteilpraxis, an der sich Strukturen und Räume unmittelbarer Kommunikation entwickeln können.

Wollen wir dem nationalistischen Dreck, der erstarkten Mobilisierung patriarchaler Männerbünde oder der kapitalistischen Zerstörung materieller und sozialer Existenzgrundlagen das Wasser abgraben, brauchen wir das Selbstvertrauen, uns in Bereiche sozialpolitischer Auseinandersetzungen vor zu wagen, die von Linksradikalen/ Autonomen nur noch selten besucht werden.

Wir sind uns bewußt, daß sich unsere formulierten Ansprüche in der Praxis beweisen müssen, doch ohne Utopien, unfertig in die Welt gepustete Ideen und die Lust auf Veränderung, können wir nur das bejammern was ist.

Daß die radikal dabei nicht nur den informativen Part übernimmt, sondern ganz direkt und konfrontativ politisches Terrain erstreitet, bedarf einer Anstrengung aller, die mit ihr arbeiten.

Technix:

esher

Sicher habt ihr schon gemerkt, daß wir euch mal eben um locker eine Mark mehr erleichtert haben, als beim Kauf der alten Nummern. Sorry, aber bei Produktionskosten von rund 30.000,- blieb uns in der jetzigen Situation nicht viel anderes übrig. Wir sind selbst mehr als unglücklich mit diesem Preis und haben für die Zukunft vor, ihn möglichst wieder zu senken (vorausgesetzt wir sind nächstes Mal besser bei Kasse).

Habt ihr es gemerkt? Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Also um effektiv arbeiten zu können brauchen wir nicht nur eure inhaltlichen Beiträge sondern auch eure finanzielle Unterstützung!

Eine weitere bittere Mitteilung betrifft den uns zugesandten Beitrag über Sinti und Roma. Wegen einer Lagerräumung ist uns euer Text mit in die Flammen gefallen. Auch hier ein dickes Sorry, aber vielleicht könnt ihr uns das Objekt unser Begierde noch mal zusenden.

Zu guter Letzt bleibt uns nur noch, all diejenigen, die uns bis hierher begleitet haben, also alle heimlichen MitwisserInnen, Unterstützerlnnen, KritikerInnen, SpenderInnen und MitorganisatorInnen für ihr offenes Ohr, für die solidarische Kritik, für ihre großzügigen Spenden, ihre Geduldsamkeit und ihre Mithilfe herzlich zu umarmen. Ohne euch hätten wir es nicht geschafft und werden es auch in Zukunft nicht schaffen.

Also los geht's - bis bald!!!

radikal dankt!