Jedes Herz eine Zeitbombe

Wir haben am 2.1.96 die Zugstrecken Berlin-Wannsee in beide Zugrichtungen lahmgelegt.

Wir haben eine Zwangsbremsung der Züge provoziert, indem wir in die Sicherheitstechnik der Deutschen Bundesbahn eingegriffen und durch einen Sabotageakt eine Störung vorgetäuscht haben. Zu keinem Zeitpunkt bestand Gefahr für Leib und Leben von Menschen.

Der Eingriff zwang die Züge zu einer Fahrt in Schrittempo. An der sabotierten Stelle haben wir Durchfahrtverbotsschilder der Bundesbahn aufgestellt. Eine Puppe mit dem Schild “Jedes Herz eine Zeitbombe! RekrutenAbschiebeZüge stoppen!” erwartete die Züge an der sabotierten Stelle. Durch Explosionswarnschilder suggerierten wir die Existenz einer Bombe, um die Durchfahrt von Zügen solange zu verhindern, bis die Entschärfungskommandos der Polizei unseren RekrutenAbschiebezugblockierer auf Herz und Nieren prüfen würden. In dem Moment, in dem sich die Bombenhinweise eben nur als Hinweise herausstellen, wird klar, daß wir unsere Parole wörtlich meinen: Jedes Herz eine Zeitbombe, ein jeder, eine jede kann entscheiden, ein Störfaktor im Gleichschritt der Maschine zu werden; jedeR beherzte Mann und Frau kann in gesellschaftlich-unerträgliche Zustände eingreifen - so auch wir.

Wir sabotieren die Strecken am Tage der stattfindenden Rekruteneinberufungen, um die reibungslose Abwicklung zu stören und ein nachahmbares Zeichen gegen die gesellschaftlich stattfindende Militarisierung der Köpfe und Herzen zu setzen. Wir knüpen hiermit an die Aktionen von AntimilitaristInnen und Totalverweigerergruppen an, die in der Vergangenheit mehrfach mit Rekruten besetzte Züge blockierten und mit anderen spektakulären Aktionen Position gegen die Militarisierung bezogen.

Wir sind nicht bereit, tatenlos zuzusehen, wenn mit einer wachsenden Kriminalisierung totalverweigernder Männer deren Widerstandswillen immer unverhohlener mit Knast gebrochen werden soll.

Wenn wir einen verkürzten Rückblick auf die Entwicklung der militär-politischen Prozesse ab 1992 vornehmen, wird klarer, wohin die unangenehme Reise des Schlachtschiffes Europa gehen könnte, wenn wir allesamt, die Willens sind - das Ding nicht irgendwie zum Kentern bringen.

Spätestens seit Anfang Mai 92 wurden die öffentlichen Weichen für die neue deutsche Kriegspolitik gestellt. Generalissimus Klaus Naumann forcierte in einer aggressiven Ansprache in Leipzig vor Kommandeuren den neuen Kurs. Er forderte “harte, gefechtsnahe Ausbildung von Soldaten, nannte diese `bequem und weinerlich` und markierte mit seinem Satz - bezogen auf die Moral der Soldaten -, daß “der Fisch zuerst vom Kopf her stinkt”, eine schärfere Ausbildung der Soldaten hinsichtlich ihrer Kriegsverwertbarkeit, das heißt eine stärkere Zurichtung und Formierung der Männer zu soldatischen Männern.

An Naumann, dem Bewunderer von “Fritz dem Doofen”, Soldat seit seinem 19ten Lebensjahr, sollten hinsichtlich seiner Ziele keine Zweifel bestehen: Der Mann, der sich selbst als “Gewissenstäter” bezeichnet, will unter ausdrücklicher Einbeziehung der Wehrpflichtigen eine Kriegs- und angriffsfähige Armee aufbauen, deren praktische Erprobung von Kambodscha über Somalia nach Ex-Jugoslawien reicht und weitergehen wird. Bereits im November 93 setzte er mit Rühe, dem Kriegsminister, die verteidigungspolitischen Richtlinien für den militärpolitischen Bereich mit folgenden Positionen: “Deutschland ist eine kontinentale Mittelmacht und exportabhängige Industrienation. Zu den vitalen Sicherheitsinteressen deutscher Politik gehören deshalb der ungehinderte Zugang zu Märkten und Rohstoffen im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung”. Somalia war nur die Zwischenstation gewesen; niemand redet heute mehr über die Absurdität dieses Blauhelmeinsatzes (und den Schweinereien beispielsweise der kanadischen Einheiten), war er doch Mittel zum Zweck der Etablierung einer militärischen Weltpolizei einerseits und Profilierungstor für die Scharfmacher RüheSchäubleNeumannKohl und ihrer deutsch definierten Interessen. Jugoslawien ist die nächste Station in diesem widerlichen “Spiel” geworden. Die “deutsche Wehrmacht” darf sich wieder gegen den Osten ausbreiten, legitimiert von einer Weltöffentlichkeit, die - von medialen Dauerbombardements manipuliert und resigniert - keine anderen Lösungen mehr denken kann als die vorgefertigten “friedensstiftenden Maßnahmen” der militärischen Intervention.

Unser Herz schlägt für die Deserteure, die quer zu allen Fronten diesem beschissenen Krieg den Rücken gekehrt haben. Wenn wir uns auf die “ex-jugoslawischen” Deserteure beziehen, dann nicht, weil wir glauben, daß sie als Männer mit der Desertation ihre Rolle im Patriarchat abgelegt hätten, sondern als positiven Anknüpfungspunkt an Männer, die an einer Stelle in ihrem Leben ihrer Aufgabe als soldatischer Mann nicht nachkommen. Jeder Deserteur stellt wissentlich oder unbewußt die Prinzipien des patriarchalen Modells in Frage, eines Modells, das von sich bekriegenden nationalen Herrschaftsgebilden ausgeht. Jeder Deserteur unterläuft das Berechtigungsschema, das angeblich den Verteidigungsfall eines Volkes begründet und in seiner Definitionsmacht auf Sprache, Kultur und Aussehen zurückgreift. Jeder Deserteur weist mit seinem Handeln den Besitzanspruch des Staats an den Diener des Staates, den Mann, zurück.

Anders ausgedrückt: In der Furcht davor, sich miltärisch verwursten zu lassen und sich selbst wichtiger zu nehmen als das national konstruierte Interesse, steckt ein Hauch von Fundamentalopposition. Und das sollte in dieser Bedeutung wahrgenommen werden. Es hat schon immer Männer gegeben, die sich geweigert haben, am Patriarchat mitzuwirken, nur haben wir das in der Regel ebensowenig erkannt wie die Deserteure selber.

“Sie haben nie darüber gesprochen, aber nach ein paar Wochen nach ihrem ersten Heimaturlaub haben sie ihre Uniformen vergraben. Die wollten nie wieder dahin zurückkehren”.

Ein “serbischer” Mann beschreibt seine Freunde, die von der Front zurückkamen, mehrere von ihnen waren getürmt. Welche persönlichen Ängste und schrecklichen Erlebnisse auch dazu geführt haben, daß Männer nicht gegen ihre Nachbarn kämpfen wollten, daß sie nicht am Sieg teilhaben und Frauen vergewaltigen wollten, daß sie keine Unbekannten ermorden wollten, daß sie geflohen sind: Es sind mehr als 40000 Männer und Jungen quer zu allen Fronten desertiert! Über 400000 Flüchtlinge, MännerFrauenjungalt, erreichten “Deutschland”. Jeder Mann im wehrfähigen Alter ist als Fahnenflüchtiger und Deserteur zu betrachten.

Wir fordern ein uneingeschränktes Bleiberecht aller Flüchtlinge! 4000 “deutsche” bewaffnete männliche potentielle Mörder und Vergewaltiger und andere Militärs helfen, die Ergebnisse eines schmutzigen Krieges abzusichern und die neuen Grenzen zu manifestieren. Der Aufbau der Gesellschaft unter militärischer Kontrolle nach den nationalistischen Prinzipien des jeweils von “anderen” gesäuberten Landes entsteht. Wer sich in jenem Land nicht mehr zurechtfinden kann oder will, hat das Recht, hierzubleiben.

Der Aufschrei der westlichen Welt angesichts dieses Krieges war aus den Mündern von Politikern, Militärs und Wirtschaftsbonzen eine Heuchelei sondergleichen, ging es doch seit Beginn des Krieges nur darum, wie dieser den eigenen Interessen dienlich sein kann. Die Anerkennungspolitik der “deutschen” Regierung hat den Konflikt nationalkonstruierter Interessen angeheizt und mitzuverantworten. Kriegsgewinnler und deutsche Militärs lagen gleichermaßen auf der Lauer, um - von unterschiedlichen Vorstellungen her - in einer Allianz in das Land einzufallen. Während die Kriegsgewinnler ihre Investitionen zur Befriedigung ihrer unersättlichen Profitgier absichern wollen, kämpft sich Deutschland den Weg zum Sitz in den Weltsicherheitsrat mit jedem noch so schmutzigen Trick frei.

Wir, die gesamte Restlinke, oder wie immer wir uns gerade definieren, haben es nicht vermocht, diesem Krieg und den “deutschen” Positionen unseren Widerstand entgegenzuschleudern. Jetzt haben wir noch einmal die Chance, gegen die allgemeine Militarisierung des Gesellschaftlichen Zeichen zu setzen. Bremsen wir jeden Zug mit unfreiwillig rückgeführten Flüchtlingen, stoppen wir jeden Bus, knipsen wir die Kommunikationsstränge auf den Flughäfen durch, willigen wir nicht ein, daß jene abgeschoben werden, die dem Krieg die normalste Handlung der Welt, die Flucht, entgegensetzen.

Die Bedeutung des “ex-jugoslawischen” Krieges für die Gesellschaft, in der wir aktuell leben müssen, ist unserer Ansicht nach weitgehend unterschätzt worden. Unsere Köpfe und Herzen werden an die eingeimpfte Erkenntnis gewöhnt, daß Konflikte nur mit den Mitteln des Stärkeren zu lösen sind, der Stärkere die Bedingungen des Sozialen diktiert und das soldatisch-zugerichtete Männer wieder einen Sinn in der Neustrukturierung patriarchaler Herrschaft machen. Patriarchale Männlichkeit wird noch stärker zu einem unwidersprochenen Wert erhoben. Die Zurichtung von Männern zu soldatischen Männern, bzw. deren freiwillige Formierung in Söldnerheeren, in militärischen Strukturen, die im Alltag den Kampf gegen “Unmännliches, Weibliches” führen wollen, werden noch stärker zum Tragen kommen. Ein kriegerisches Verhältnis zu anderen Ländern oder das Einbunkern in der deutscheuropäischen Festung bleibt nicht ohne Wirkung auf die eigenen sozialen Bezüge und das zivile Leben. Die Militarisierung der Köpfe bedeutet auch ein höheres Maß an Gewaltbereitschaft gegen “Abweichungen” und führt dazu, daß Konflikte mehr und mehr gewalttätig und nicht vermittelnd gelöst werden.

Der Krieg in Jugoslawien ist unserer Meinung nach auch hier geführt worden. Wir sollten unsere eigene Niederlage in Bezug auf unsere fehlende Position während des “ex-jugoslawischen” Krieges nicht noch dadurch vergrößern, daß wir nun auch noch den Abschiebungen zusehen. Im Gegenteil: Uns bietet die Auseinandersetzung um Desertation und Totalverweigerung die Möglichkeit, zu einer antipatriarchal/antimilitaristischen Grundposition gegen zukünftige Kriege zurückzufinden. Wir haben nicht daran geglaubt, daß es in dem Krieg auch nur eine “gerechte” Seite hätte geben können. Wir haben auf die Entwaffnung aller militärischen Männerbünde und -heere gesetzt, auf die Zersetzung aller soldatischen Mann-Strukturen.

Die Frage der Neubestimmung militanter Praxis gegen Herrschaft führte einige von uns immer wieder zur Abgrenzung vom Militarismus. Heute stellt sich uns die Frage, wie aus der Abgrenzung von militaristischen Prinzipien und soldatischen Tugenden die Kriterien für eine antipatriarchal bestimmte Militanz und einen sozialen Mann erwachsen könnte. Antipatriarchale Militanz von Männern müßte - so eine unserer Thesen - darauf ausgerichtet sein, die institutionalisierten und wilden Männerbünde und -banden zu entwaffnen. Ziel ist es nicht, die Macht über sie zu erringen, sondern Herrschaft zu zersetzen. Antipatriarchal bestimmte Gewalt hat ausschließlich das Ziel der Spaltung, der Zersetzung der Männerblöcke und patriarchalen Werte, die Schwächung der Kampfkraft, ohne selbst ein neues Heer zu kreieren, die geistige wie materielle Entmachtung und Entwaffnung. Dies ist die These.

Die Diskussion um die Neubestimmung einer Militanz mit antipatriarchaler Ausrichtung und neuen sozialen Entwürfen kann nicht von uns allein geführt werden oder getragen werden. Das gilt auch für die Frage, was ein sozialer Mann gesellschaftlich heißen könnte. Wir wünschen uns dazu eine Diskussion mit allen noch existierenden fundamentaloppositionellen, egalitär orientierten Gruppen und Personen. Uns geht es darum, den gesellschaftlichen Prozeß der nationalchauvinistischen Mobilisierung und deutsch definierten Interessen zu begreifen, die innere wie äußere Formierung von Männermacht aufzuspüren, die Zurichtung von Jungen und Männern auf dem Hintergrund des aktuellen patriarchalen Rollbacks deutlich zu machen, nach Blockade- und Sabotagepunkten zu suchen und in gesellschaftliche Widersprüche hineinzuwirken. An folgenden Fragen orientieren wir uns in der Diskussion:

Wie können wir jetzt Gegenakzente setzen, wenn Kriege mit noch mehr Militär befriedet werden sollen, wenn Flüchtlinge in eien militarisierte Gesellschaft zurückgeschickt werden und unter Bewachung des Militärs in nationalkonstruierte Schubladen gesteckt werden?

Was meinst Du?

An welchen Stellen können wir die deutscheuropäische Einigung und Festungspolitik angreifen und löchern? Wie können wir gegen den Zusammenbruch des Sozialen eine Utopie entwickeln, die den Interessen “deutscher” Formierung und Militarisierung eine lebendige Position entgegensetzen kann und Basis von Widerstand sein kann?

So, wie die Militarisierung der Köpfe und Herzen die Vorbereitung künftiger Kriege darstellt, so müssen wir uns heute auf die Suche nach Konzepten gegen Militarisierung, Zurichtung soldatischer Männer bzw. deren freiwillige Formierung machen, wenn wir zukünftige Kriege im Ansatz sobotieren wollen. Um unserer selbst willen!

Kein Frieden mit dem Patriarchat!

Jedes Herz eine Zeitbombe - werden wir Sand im Getriebe der Macht!
AbschiebeRekrutenzüge stoppen!
Totalverweigerung gegen MännerBUND!
Entwaffnung aller patriarchalen Männerbünde und -banden!
Bohren wir Löcher in die Festung Europa - für freies Fluten!
Sabotieren und blockieren wir die Zurichtung der Männer!
Soziale Männer statt soldatische Panzer!
Lebt radikal antipatriarchal!
Für eine Gesellschaft ohne (Abschiebe)Knäste!
Solidarität mit den Abgetauchten!
Unterstützen wir (total-)verweigernde türkurdische Männer!
Prima Wurfanker gegen Castor-X und andere Schweinereien

Flammende Herzen und Freunde
Januar 1996